DIE MUSCHELÖFFNERIN von Sarah Waters

Nancy Astley ist eine junge Frau und arbeitet am Ende des 19. Jahrhunderts als Muschelöffnerin im elterlichen Restaurant an der Küste von Kent. Ihr Alltag ist durch die harte Arbeitsroutine streng reglementiert und sie hat nur wenig Zeit für private Vergnügungen. Zu diesen raren Freizeitaktivitäten zählt der Besuch der Music Hall im nahen Canterbury. Bei einer der dortigen Vorstellungen trifft sie auf Kitty Butler, die als Herrendarstellerin auftritt. Nancy ist sofort hingerissen von ihr. Sie beginnt der Darstellerin schwärmerische Avancen zu machen, auf welche diese nach einigem Zögern eingeht. Es entwickelt sich eine Liebesbeziehung zwischen den beiden unterschiedlichen Frauen. Anfangs ist Nancy sehr mutig und verlässt sogar ihr Elternhaus, um Kitty nach London zu folgen. Zunächst arbeitet sie als Garderobenmädchen, bevor sie dann mit Kitty die Bühnen erobert. Während der Erfolg zunimmt , ändern sich aber die Vorzeichen. Der anfangs stürmischen Nancy fällt es schwer, sich dauerhaft zu ihrer Partnerin zu bekennen. Kitty wiederum verliebt sich immer mehr in die junge Frau aus Kent und ist davon überzeugt, dass sie ihre große Liebe gefunden hat. Wird die Liebe am Ende siegen, zerbricht sie am intoleranten und wenig aufgeklärten Zeitgeist oder nimmt die Geschichte eine überraschende Wendung?

„Die Muschelöffnerin“ oder zu englisch „Tipping the Velvet“ ist das Erstlingswerk der britischen Autorin Sarah Waters. Der Roman erschien erstmals 1998 und feiert dieses Jahr sein 20jähriges Jubiläum. Bei seiner Veröffentlichung wurde er enthusiastisch aufgenommen und machte die Autorin in Literaturkreisen schlagartig berühmt. In der Zwischenzeit wurde er mit ebenso großem Erfolg verfilmt. Sarah Waters studierte zuvor englische Literaturwissenschaft und befasste sich schon zu ihrer Studienzeit mit der Darstellung homosexueller Charaktere in der Literatur. Ihr Erstlingswerk kann somit nur als folgerichtig bezeichnet werden.

Präzise wie kaum eine andere Autorin entführt uns Sarah Walters in die aufregend fortschrittliche und zugleich fürchterlich intolerante Welt des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Man taucht tief ein in das viktorianische Zeitalter mit all seinen sozialen Verwerfungen. Als Leser lässt man sich vom Staunen der Menschen über die damaligen technischen Entwicklungen mitreißen, während der gesellschaftliche Fortschritt auf der Strecke blieb und starre Konventionen das Leben der Menschen weiterhin beherrschten. Die Sprache ist plastisch, nie um bildhafte Beschreibungen verlegen und trotzdem jederzeit klar. Die Darstellung von Ereignissen, Dingen und Personen ist genau. Insbesondere die Beschreibungen der Personen und ihrer Interaktionen sind sinnesfreudig, akkurat und vereinen Witz mit Ironie. Die Liebesbeziehung zwischen den beiden Frauen ist sinnlich, erotisch und mit viel Feingefühl dargestellt. Auch die innere Zerrissenheit der beiden Frauen, schwankend zwischen Liebe und dem Befolgen gesellschaftlicher Konventionen, überzeugt vollkommen. Als Leser sehnt man das Happy End förmlich herbei und wünscht den beiden Frauen für ihre Zukunft nur das Beste. Aber dann ist da ja noch die überraschende Wendung der Geschichte…

Auch zwanzig Jahre nach seiner Veröffentlichung hat der Roman nichts von seiner Aktualität verloren. Insbesondere wenn man bedenkt, dass die Romanhandlung vor über 120 Jahren spielt und selbst so viele Jahre später die Liebe zwischen Erwachsenen nicht überall problemlos und frei gelebt werden kann. „Die Muschelöffnerin“ ist ein aufregender und höchst vergnüglich zu lesender Roman, dessen Botschaft couragiert und mit Vehemenz vorgetragen wird: lebe und liebe! Wer an ungewöhnlichen Liebesgeschichten mit gesellschaftskritischen Untertönen Gefallen findet, unvorhergesehene Wendungen liebt und das Buch bisher noch nicht gelesen hat, dem sei die Lektüre uneingeschränkt empfohlen.

Erhältlich als Taschenbuch, gebundene Ausgabe und e-book

Erschienen im Krug & Schadenberg Verlag

Veröffentlicht 2002 (als deutsche Erstauflage)

ISBN: 978-3930041800

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